Schmerz im kulturellen Kontext

Eine interdisziplinäre Betrachtung

Schmerz ist eine universelle Erfahrung, die von Menschen auf der ganzen Welt erlebt wird. Trotz seiner Universalität wird Schmerz in verschiedenen Kulturen unterschiedlich verstanden, interpretiert und behandelt. Diese Unterschiede spiegeln sich in der Sprache, den Ritualen, den medizinischen Praktiken und den sozialen Erwartungen wider. Die Wahrnehmung und das Ausdrucksverhalten von Schmerz können je nach kulturellem Hintergrund stark variieren.

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von Johanna Wendner, DGKP, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Schmerzmanagement der Gesundheits- und Krankenpflege (GesGuK)

Zusammenfassung
Schmerz ist eine komplexe und vielschichtige Erfahrung, die stark von kulturellen Faktoren beeinflusst wird. Das Verständnis der kulturellen Unterschiede in der Wahrnehmung, Interpretation und Behandlung von Schmerz ist entscheidend für eine effektive und patientenzentrierte Versorgung. Durch die Berücksichtigung kultureller Perspektiven können Gesundheitsdienstleister:innen dazu beitragen, die Barrieren in der Schmerzbehandlung zu überwinden und die Lebensqualität ihrer Patient:innen zu verbessern.

Schmerz und Kultur

Schmerz wird von der International Association for the Study of Pain (IASP) als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis“ definiert, das „mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung einhergeht oder in Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“ [1].

Diese Definition berücksichtigt jedoch nicht die kulturelle Dimension von Schmerz. Kulturen prägen nicht nur die Schmerzschwelle und -toleranz, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen über Schmerz sprechen und darauf reagieren [2].

Historische Perspektiven auf Schmerz

Die Sprache spielt eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Schmerzerfahrungen. In einigen Kulturen gibt es spezifische Wörter, die verschiedene Arten von Schmerz beschreiben.

Historisch gesehen variierten die Auffassungen von Schmerz stark zwischen verschiedenen Kulturen. In der westlichen Medizin wurde Schmerz traditionell als reines physiologisches Phänomen betrachtet. Im Gegensatz dazu haben viele indigene und östliche Kulturen Schmerz oft als eine Form von Disharmonie im Körper und Geist verstanden, die durch spirituelle oder ganzheitliche Ansätze behandelt werden kann [3].

Kulturelle Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung

Die Interpretation von Schmerz kann stark von kulturellen Normen und Werten beeinflusst werden. In westlichen Gesellschaften wird Schmerz oft als ein Signal verstanden, das medizinische Aufmerksamkeit erfordert. In anderen Kulturen kann Schmerz als ein natürlicher Teil des Lebens betrachtet werden, der Geduld und Resilienz erfordert. Zum Beispiel sehen viele afrikanische Kulturen Schmerz als eine Prüfung der Stärke und des Charakters, während in einigen asiatischen Kulturen Schmerz als eine Manifestation von Ungleichgewichten im Körper angesehen wird [2].

In westlichen Kulturen liegt der Fokus eher auf der medikamentösen Behandlung und der physischen Ursache von Schmerz.

In nichtwestlichen Kulturen, wie beispielsweise in vielen asiatischen oder afrikanischen Gesellschaften, wird Schmerz häufig im Kontext des gesamten Wohlbefindens gesehen. Traditionelle Heilmethoden wie Akupunktur, Ayurveda oder schamanistische Rituale spielen eine wichtige Rolle in der Schmerzbewältigung [4, 5].

Schmerz und Religion

In vielen Kulturen ist Schmerz eng mit religiösen oder spirituellen Überzeugungen verbunden. In christlichen Traditionen wird Schmerz oft als Prüfung angesehen. Buddhistische Lehren betonen die Akzeptanz von Schmerz als Teil des menschlichen Daseins und lehren Techniken zur Schmerzbewältigung durch Meditation und Achtsamkeit. Diese religiösen Interpretationen beeinflussen maßgeblich, wie Individuen Schmerz wahrnehmen und darauf reagieren [6].

Soziale Dimensionen des Schmerzes

Geschlecht und Schmerz. Das Geschlecht spielt eine wesentliche Rolle in der Wahrnehmung und dem Ausdruck von Schmerz. Studien haben gezeigt, dass Frauen und Männer Schmerz unterschiedlich erleben und ausdrücken. Frauen berichten tendenziell häufiger über Schmerz und neigen dazu, eine höhere Schmerzsensitivität zu haben. Diese Unterschiede können auf biologische, psychologische und soziale Faktoren zurückgeführt werden [7].

Kulturelle Normen und Erwartungen hinsichtlich des Geschlechts beeinflussen ebenfalls, wie Männer und Frauen Schmerz kommunizieren und bewältigen [8].

Schmerz und sozioökonomischer Status. Der sozioökonomische Status beeinflusst die Schmerzerfahrung und den Zugang zu Schmerzbehandlungen erheblich. Menschen aus niedrigeren sozioökonomischen Schichten haben oft weniger Zugang zu medizinischer Versorgung und sind häufiger chronischen Schmerzzuständen ausgesetzt. Diese Unterschiede verstärken sich durch kulturelle Barrieren und das Stigma, das mit Schmerz und seiner Behandlung verbunden sein kann [9].

Schmerzbehandlung im kulturellen Kontext

Traditionelle Heilmethoden. In vielen Kulturen spielen traditionelle Heilmethoden eine zentrale Rolle bei der Schmerzbehandlung. In der chinesischen Medizin werden Akupunktur und Kräutertherapien verwendet, um das Gleichgewicht im Körper wiederherzustellen. In afrikanischen Kulturen sind oft rituelle und spirituelle Praktiken Teil der Schmerztherapie. Diese Methoden spiegeln ein tiefes Verständnis der kulturellen Bedeutung von Gesundheit und Krankheit wider und bieten oft eine ganzheitliche Sichtweise auf Schmerz [3].

Moderne medizinische Ansätze. In westlichen Kulturen dominiert die biomedizinische Perspektive auf Schmerz, die stark auf pharmakologische Interventionen setzt. Zusätzlich zu medikamentösen und nicht medikamentösen Behandlungen werden physikalische Therapien und psychologische Ansätze eingesetzt, um Patient:innen bei der Bewältigung chronischer Schmerzen zu unterstützen [10].

Kulturelle Barrieren in der Schmerzbehandlung

Trotz der Vielfalt an Behandlungsmethoden gibt es in multikulturellen Gesellschaften oft Herausforderungen bei der Schmerzbehandlung. Kulturelle Barrieren können dazu führen, dass Patient:innen ihre Schmerzerfahrungen nicht adäquat kommunizieren oder dass Ärzt:innen und diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen kulturell bedingte Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung und im Schmerzausdruck nicht erkennen.

Kommunikation und Missverständnisse

Kommunikationsbarrieren können die effektive Behandlung von Schmerz erheblich erschweren. Patient:innen aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen können Schwierigkeiten haben, ihre Schmerzerfahrungen in einer Weise zu beschreiben, die von medizinischem Personal verstanden wird. Dies kann zu Missverständnissen und unzureichender Schmerzbehandlung führen [11]. Zudem können kulturelle Normen und Erwartungen beeinflussen, wie offen Patient:innen über ihren Schmerz sprechen. In einigen Kulturen kann es als Zeichen von Schwäche angesehen werden, Schmerzen zuzugeben, was dazu führen kann, dass Patient:innen ihren Schmerz herunterspielen oder verbergen.

Schlussfolgerung

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass medizinisches und pflegerisches Personal für kulturelle Unterschiede in der Schmerzbehandlung sensibilisiert wird. Schulungen in kultureller Kompetenz können dazu beitragen, dass Ärzt:innen und Pflegekräfte die kulturellen Hintergründe ihrer Patient:innen besser verstehen und angemessene Behandlungsstrategien entwickeln können [12]. Dies umfasst auch das Wissen über alternative Behandlungsmethoden und die Bereitschaft, diese in die Behandlung zu integrieren, wenn dies den Präferenzen der Patient:innen entspricht.

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Literatur

  1. International Association for the Study of Pain (IASP). (2017). IASP Terminology; https://www.iasp-pain.org/resources/terminology/ (zuletzt abgerufen am 17. Juni 2024).
  2. Kleinman A. Patients and Healers in the Context of Culture. University of California Press; 1980.
  3. Good M‑JD. Pain as Human Experience: An Anthropological Perspective. University of California Press. 1994.
  4. Zborowski M. Cultural Components in Responses to Pain. J Social Issues. 1952;8(4):16–30.
  5. Gureje O, Simon GE. The epidemiology of chronic pain in the developing world. Pain. 2001;112(1–2:115–20.
  6. Lasch KE. Culture, pain, and culturally sensitive pain care. Pain Manag Nurs. 2000;1(3):16–22.
  7. Bates MS, Edwards WT, Anderson KO. Ethnocultural influences on variation in chronic pain perception. Pain. 1993;52(1):101–12.
  8. Tait RC, Chibnall JT. Racial/Ethnic Disparities in the Assessment and Treatment of Pain: Psychosocial Perspectives. Am Psychol. 2014;69(2):131–41.
  9. Kirmayer LJ, Looper KJ. Aboriginal Healing in Canada: Therapeutic Interventions and the Placebo Effect. In: Meaning M, the, Hrsg. Moerman DE. Placebo Effect: Cambridge University Press; 2006.
  10. Turk DC, Okifuji A. Psychological factors in chronic pain: evolution and revolution. J Consult Clin Psychol. 2002;70(3):678–90.
  11. Green CR, Anderson KO, Vallerand AH, et al. et al. The unequal burden of pain: confronting racial and ethnic disparities in pain. Pain Med. 2003;4(3):277–94.
  12. Betancourt JR, Green AR, Park ER, et al. Cultural competence and health care disparities: key perspectives and trends. Health Aff (millwood). 2005;24(2):499–505.

erschienen in SCHMERZ NACHRICHTEN 3/2024