Realistische Therapieziele vereinbaren

Die Verbesserung der Lebensqualität sollte das gemeinsame Therapieziel von chronischen Schmerzpatient:innen und Behandler:innen sein, wenn Schmerzfreiheit nicht zu erreichen ist.

„Kein Patient muss Schmerzen haben!“ Dieser Slogan wurde und wird immer wieder von Expert:innen und in der Laienpresse kommuniziert. „Endlich schmerzfrei! – ein Ziel, das leider für den Großteil unserer Patient:innen unerreichbar ist“, sagt der Schmerzmediziner Dr. Wolfgang Jaksch, Oberarzt an der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin mit Ambulanz, Klinikum Ottakring, und Past President der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) – und plädiert dafür, gemeinsam mit den Patient:innen realistische Therapieziele zu formulieren.

Die absolute Schmerzfreiheit sei speziell bei Patient:innen mit neuropathischen Schmerzen, aber auch bei Beschwerden des Bewegungsapparates mit schweren degenerativen Veränderungen oder chronischen Entzündungen (rheumatologischer Formenkreis) kaum erreichbar, argumentiert Dr. Jaksch. Das zu erwarten (Patient:innen) oder in Aussicht zu stellen (Behandler:innen), würde nur den Druck erhöhen, zu Frust, Therapieabbruch oder „Doctor shopping“ führen. Angestrebt solle in diesen Fällen vielmehr eine Schmerzlinderung werden, um in erster Linie die Lebensqualität, die Schlafqualität und auch die Aktivität zu verbessern. „Diese Therapieziele müssen gemeinsam mit dem Patienten am Beginn genau festgelegt werden.“

Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

Das beschriebene Prinzip sollte für den Einsatz aller Analgetika gelten, unter anderem auch für den verantwortungsvollen Umgang mit Opioiden. Denn in der Vergangenheit hätte der allzu unkritische Einsatz von Opioiden in Kombination mit dem unrealistischen Ziel der Schmerzfreiheit in einigen Ländern zu massiven gesundheitspolitischen (und in der Folge gesellschaftlichen) Problemen geführt, vor allem in den USA. Die sogenannte „Opioidkrise“ hatte dort bis zu 2000 Todesfälle/Jahr wegen Überdosierungen und Tausende stationäre Aufnahmen wegen Nebenwirkungen und Suchtproblematiken zur Folge. Ein Umstand, der nicht nur in den USA selbst, sondern ausstrahlend bis etwa auch nach Österreich zu einer medialen „Hysterie“ beigetragen hat, die die bestehende Verunsicherung unter Patient:innen und Ärzt:innen noch einmal potenziert hätte, erläutert Dr. Jaksch. Das habe in weiterer Folge zu einer – medizinisch unbegründeten – Zurückhaltung vieler Ärzt:innen geführt, Opioide in der Schmerztherapie einzusetzen. Eine aus Sicht von Dr. Jaksch falsche – und für viele chronische Schmerzpatient:innen sogar – gefährliche Entwicklung, denn Opioide seien in der Behandlung chronischer Schmerzen in bestimmten Fällen indiziert und somit unverzichtbar. Das Problem seien nicht die Substanzen selbst, sondern das Fehlen einer kompetenten und verantwortungsbewussten Anwendung.

Responder-Abklärung

Ein rationaler, leitliniengerechter Einsatz von Opioiden in der Behandlung chronischer Schmerzpatient:innen könne die Lebensqualität vieler Betroffener deutlich verbessern. Dazu müssen Wirkung und Nebenwirkungen der Medikation abgewogen werden, erklärt Dr. Jaksch. Zentral sei dabei die Frage, ob die:der Patient:in ein „Responder“ ist, also das „vereinbarte Therapieziel (Anm.: Verbesserung der Lebensqualität) in einem vernünftigen Dosisbereich von Opioiden – 60 bis maximal 120 mg Morphinäquivalent – und mit akzeptablen oder keinen Nebenwirkungen erreichen kann. Nur bei diesen Respondern kommen Opioide im Rahmen einer multimodalen Therapie für einen langfristigen Einsatz in Frage“, so Dr. Jaksch. Nebenwirkung seien nämlich der wichtigste Grund, warum eine Opioid-Therapie vorzeitig abgebrochen wird. An erster Stelle steht dabei die Obstipation. Deshalb müsse diese Problematik schon vor Beginn der Therapie und bei jeder Kontrolle „aktiv angesprochen werden“, wünscht sich Dr. Jaksch, da viele Patient:innen, auch wegen Begleiterkrankungen oder Begleitmedikation, unter Obstipation leiden würden. Geeignete Gegenstrategien, bis zum Einsatz von peripher wirksamen Opioidrezeptor-Antagonisten (Naloxegol), müssten daher Patient:innen angeboten werden. Zu wenig Beachtung werde oft auch jenen Nebenwirkungen geschenkt, die in der Langzeittherapie eine wichtige Rolle spielen können. Dazu zählen Auswirkungen auf den Hormonhaushalt (etwa Libidoverlust, Angst, Depression, Nachtschweiß, Müdigkeit und Erschöpfung), damit im Zusammenhang auch auf den Knochenstoffwechsel (Stichwort: opioidinduzierte Osteoporose). In der Langzeittherapie sollten deshalb Hormone (Testosteron, DHEA, Östradiol) regelmäßig kontrolliert werden und alle zwei Jahre eine Knochendichtmessung erfolgen. Toleranzentwicklung oder Abhängigkeit sind weitere mögliche unerwünschte Wirkungen einer Therapie mit Opioiden. „Die Sorge vor möglichen Abhängigkeiten sollte jedoch nicht von einer kompetenten Therapie mit diesen Analgetika abhalten“, betont Dr. Jaksch. Vor Beginn einer Opioid-Therapie müsse aber eine genaue Anamnese durchgeführt werden. Patient:innen mit aktuellem oder zurückliegendem Substanzmissbrauch oder mit einer psychiatrischen Komorbidität haben ein deutlich erhöhtes Risiko, eine Abhängigkeit von Opioid-Analgetika zu entwickeln. Vorsicht und umfassendes Monitoring sei in der Gabe von Opioiden in der Therapie chronischer Schmerzen also „durchaus geboten, ein grundsätzlicher Verzicht hingegen nicht“, so das Resümee von Dr. Jaksch.

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3 Fragen an den Experten:

Herr Dr. Jaksch, sie bezeichnen das Therapieziel „Schmerzfreiheit“ für die Mehrheit der chronischen Schmerzpatient:innen als unrealistisch. Vielmehr sollte die „Verbesserung der Lebensqualität“ in den Mittelpunkt rücken. Was heißt das aber konkret? Wann ist dieses Ziel erreicht, wie wird es definiert?
Dr. Jaksch: Wenn die Ursache der Schmerzen nicht behoben werden kann, ist jede symptomatische Schmerztherapie eigentlich als „palliative Therapie“ zu sehen. Es ist unbedingt notwendig, mit der:dem Patient:in gemeinsam zu klären, welcher Lebensbereich durch die Schmerzen beeinträchtigt ist. Was muss verbessert werden? Welche Schmerzlinderung ist notwendig, um den Schlaf oder auch die Aktivität wieder zu verbessern. Dabei können und sollen auch ganz konkrete Ziele definiert werden, wie zum Beispiel ein Kaffeehausbesuch, Treffen mit Freunden oder Ähnliches. Ein hilfreiches Tool wäre hierzu beispielsweise die Change-Pain-Skala, die dazu dient, den Zielscore auf dem Weg von der aktuellen zu einer tolerierbaren Schmerzstärke festzulegen.*

Sie plädieren dafür, Opioide nicht aus der Schmerztherapie zu verbannen, sie vielmehr verantwortungsbewusst einzusetzen. Was bedeutet das für behandelnde bzw. verschreibende Ärzt:innen in der klinischen Praxis?
Dr. Jaksch: Jeder Einsatz von Opioiden ist ein individueller Therapieversuch. Die Patient:innen müssen aufgeklärt werden, welche Substanzen sie erhalten und mit welchen Nebenwirkungen und Einschränkungen zu rechnen ist. Gerade bei neuropathischen Schmerzen gehören Opioide sicher nicht zu den First-line-Medikamenten. Es muss gerade in der Einstellungsphase ganz genau darauf geachtet werden, ob die Patient:innen zu den Respondern zählen bzw. ob sie unter einem opioidsensiblen Schmerz leiden. Wenn dies nicht der Fall ist, muss die Konsequenz gezogen und dieser Therapieversuch als gescheitert bezeichnet werden. Keinesfalls soll es zu extremen Dosissteigerungen kommen. Das gilt grundsätzlich nicht nur für Opioide, sondern für alle Medikamente.

Opioide sind potenziell „gefährliche“, zugleich aber unverzichtbare Medikamente in der Therapie chronischer Schmerzen. Warum soll und kann nicht darauf verzichtet werden?
Dr. Jaksch: Wie schon erwähnt, soll und muss bei chronischen Schmerzpatient:innen alles versucht werden, Schmerzen soweit zu lindern, um die Lebensqualität zu verbessern. Es gibt viele Ursachen und Mechanismen für die Entstehung von chronischen Schmerzen. Wenn in der Einstellungsphase – wie oben erwähnt – die Wirksamkeit sowie die Verträglichkeit bei individuellen Patient:innen nachgewiesen wurde, können Opioide über Jahre ein wertvoller Baustein in einem multimodalen Konzept der Schmerztherapie sein. Auch die Langzeitauswirkungen sollten immer genau überwacht werden. Regelmäßige Versuche der Dosisreduktion bzw. Auslassversuche sind indiziert, eine Dosiseskalation soll unbedingt vermieden werden. * Change Pain ist eine europaweite Initiative, die von der Dachorganisation der europäischen Schmerzgesellschaften (EFIC) in Kooperation mit der Firma Grünenthal entwickelt wurde und dem Motto folgt: „It is the patient’s decision, where pain ends and life begins“.

Bericht: Mag. Volkmar Weilguni