Welches Geschlecht hat die Intensivmedizin?

Im Rahmen der diesjährigen Wiener Intensivmedizinischen Tage entwarf Prof.in Eva Schaden, Präsidentin des Verbandes der intensivmedizinischen Gesellschaften Österreichs (FASIM), die Vision einer geschlechtergerechten, holistischen Intensivmedizin von morgen. Dafür müssten nicht nur veraltete Strukturen aufgebrochen werden, sondern Medizinerinnen auch aktiv und selbstbewusst Führungsverantwortung einfordern.

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Wie in den meisten medizinischen Fächern sind Frauen auch in der Anästhesie und Intensivmedizin nach wie vor unterrepräsentiert, zumindest dort, wo es um die Besetzung von Führungspositionen geht. Während der Frauenanteil insgesamt bei 45 % liegt, beträgt der Anteil an Primarärztinnen in Anästhesie und intensivmedizinischen Abteilungen im Jahr 2023 lediglich 11 % (13 Frauen/114 Männer).

Ein Ungleichverhältnis, das sich in zahlreichen medizinischen Einrichtungen und Institutionen wiederholt. Je höher die Positionen, umso ungleicher wird das Verhältnis, diagnostizierte Assoc. Prof.in PDin Dr.in Eva Schaden, EDIC, Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie an der Medizinischen Universität Wien. So hätten beispielsweise im Jahr 2020 83 Männer eine Professur an der Medizinischen Universität Wien innegehabt, aber nur 34 Frauen. Auch das (kurz vor der WIT 2024 stattgefundene) Hearing zur Neubesetzung der Professur für Anästhesiologie und anästhesiologische Intensivmedizin an der Medizinischen Universität Wien lief ohne Frauenbeteiligung ab. Im Präsidium der Österreichischen Ärztekammer ist keine Frau vertreten, in der Prüfungskommission der Akademie der Ärzte stehen 3 Frauen 11 Männern gegenüber (Anteil: 27 %). Ein ähnliches Verhältnis zeige sich auf den Einladungslisten für Vortragende auf großen medizinischen Kongressen, egal ob sie WIT (Frauenanteil 38 %), oder AIC (Frauenanteil 27 %) heißen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die männliche Dominanz spiegelt sich auch in den intensivmedizinischen Studien wider, in denen sex-/genderbedingte Unterschiede sowohl bei Patient:innen als auch bei Behandler:innen bisher nur unzureichend beachtet wurden.

Positive Entwicklungen

In Einzelinitiativen ließen sich aber zumindest positive Entwicklungen ausmachen, will Prof.in Schaden ihre Hoffnung auf mehr Geschlechter-Gerechtigkeit in Anästhesie und Intensivmedizin nicht aufgeben. Stellvertretend nennt sie die 2022 im Rahmen des Ludwig Boltzmann Instituts für „Digital Health and Patient Safety“ gegründete Arbeitsgruppe für geschlechtssensible Forschung in Anästhesie und Intensivmedizin. Die von Dr.in Helena Schluchter geleitete Arbeitsgruppe widmet sich derzeit folgenden Themen:

  • Publikationstätigkeit in Anästhesie und Intensivmedizin
  • Schmerztherapie nach metabolischer Chirurgie
  • Medikamentendosierungen bei Intensivpatient:innen
  • Scoring-Systeme in der Intensivmedizin

Engagierte Kolleg:innen lud Prof.in Schaden zum Mitmachen ein. Sie sollen sich bei Interesse direkt an Dr.in Schluchter wenden: helena.schluchter@dhps.lbg.ac.at

Holistische Intensivmedizin

Ziel müsse laut Prof.in Schaden eine „holistische, menschliche Intensivmedizin“ sein, die sich nicht nur an Vitalfunktionen orientiert – nach dem bekannten ABCDE- Schema – A: Airway (Luftwege freimachen), B: Breathing (Atmung sichern), C: Circulation (Kreislauf stabilisieren), D: Disability (neurologischer Status), E: Environment/ Exposure (Erkunden) –, sondern auch das biopsychosozial basierte ABCD- Schema verfolgt – A: Attitude (Einstellung), B: Behaviour (Verhalten), C: Compassion (Mitgefühl), D: Dialogue (Dialog/ Kommunikation) (Chochinov H. Dignity and the essence of medicine. BMJ 2007).

Ihre persönliche „Vision“ beschrieb Prof. in Schaden wie folgt:

  • „Ich möchte eine holistische Intensivmedizinerin sein (dürfen) und die Menschlichkeit nicht anderen (auch gut geeigneten!) Berufsgruppen, z. B. Pflege oder Psychologie, überlassen müssen.
  • Ich möchte das so auch einem (hoffentlich) diversen intensivmedizinischen Nachwuchs vermitteln.
  • Ich möchte Intensivmedizinerin sein in einem diversen Team, in dem jede:r wahrgenommen und wertgeschätzt wird, Stichwort ‚Ethical Climate‘.
  • Ich möchte mit mehr ‚neuen‘ (und so vielleicht auch mit mehr weiblichen) Führungskräften/Führungspersönlichkeiten arbeiten, die nicht nur aufgrund ihrer Publikationstätigkeit und ihrer Drittmittelakquise rekrutiert werden, sondern sich – nachgewiesenermaßen – zum Beispiel an den Werten bzw. Führungskompetenzen der European University Hospital Alliance (EUHA) orientieren, die da lauten: Leading a Team, Motivate, Talent Management, Conflict Resolution, Resilience, Change Management, Managing up , Open Feedback.
  • Ich möchte Intensivmedizinerin sein mit Arbeitsbedingungen, die einen zufriedenstellenden Umgang mit allen Care-Aufgaben zulassen.“

Abschließend forderte Frau Prof.in Schaden alle Frauen auf, nicht passiv auf die Änderung ihrer Lebensrealität zu warten, sondern mutig nach vorne zu treten und (weibliche?) Macht zu übernehmen.

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Lesetipps

Prof.in Eva Schaden empfiehlt:

… ein vor kurzem bei Springer Nature (Magazin Intensive Care Medicine) publiziertes Editorial von Katarzyna Kotfis und Kolleginnen: Kotfis K, Olusanya S, Modra L. Equity in patient care in the intensive care unit. Intensive Care Med. 2024;50(2):291–293; https://doi.org/10.1007/s00134-023-07310-6

… das Buch Unsichtbare Frauen – wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Darin legt die Autorin Caroline Criado-Perez geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen. Erhältlich als Taschenbuch bei btb. ISBN: 978-3-442-71887-0

… das Buch Der falsche Feind – Schuld sind nicht die Männer. Die Psychotherapeutin Christine Bauer-Jelinek vertritt darin die These, dass sich Frauen „nicht ständig als Opfer fühlen“ sollten. Herausgegeben von ECOWIN. ISBN-13: 978-3-7110-0029-3

Bericht: Mag. Volkmar Weilguni

Quelle: WIT 24 – 42. WIENER INTENSIVMEDIZINISCHE TAGE, Seminar „Alles Gender“ in der Intensivmedizin? 15. Februar 2024, Wien 

erschienen in ANÄSTHESIE NACHRICHTEN 2/2024