Ein Kunststipendium ermöglichte dem jungen Heber Ferraz Leite das Medizinstudium in Montevideo. Wie der Neurochirurg später der Militärdiktatur weichen musste, warum es ihn nach Wien verschlug, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen und welchen Stellenwert Kunst und Medizin für ihn haben, erzählte uns der Gestalter der SCHMERZ NACHRICHTEN Coverbilder in einem sehr persönlichen Interview. Gefragt hat Volkmar Weilguni.
Herr Prof. Ferraz-Leite, Ihre medizinische Laufbahn verdanken Sie der Kunst. Wie kam es dazu?
Ferraz-Leite: Ich habe in der Schule zu zeichnen begonnen. In meiner Heimatstadt Florida veranstalteten die „Amigos del arte“, die „Kunstfreunde“, einen Talentwettbewerb. Ich meldete mich an – und gewann den 1. Preis, ein Stipendium für die Kunsthochschule in Montevideo. Dank dieses Stipendiums kam ich zum Malen und zum Leben in die Hauptstadt, etwa 100 km von zuhause entfernt. Diese einmalige Chance wollte ich nutzen und schrieb mich parallel an der medizinischen Universität ein. Während des Tages widmete ich mich dem Medizinstudium, in der Nacht der Kunst. Irgendwann kam mein Kunstprofessor zur mir und sagte: „Ich hatte noch nie einen so talentierten Schüler wie dich unterrichtet, aber auch noch nie einen so faulen.“ Er wusste ja nichts von meinem Medizinstudium. Das Kunststipendium habe ich mit dieser Beurteilung nicht verlängert bekommen, dafür aber ein Stipendium für die Medizinuni.
1979 kamen Sie kurz nach Abschluss ihrer Facharztausbildung als junger Neurochirurg an das Wiener AKH. Ein weiter Weg von Montevideo. Warum entschieden Sie sich damals für Wien?
Ferraz-Leite: Als in Uruguay eine Militärdiktatur die Macht über nahm, engagierte ich mich als Aktivist im Widerstand. Damit verbaute ich mir jede Karrieremöglichkeit unter dem herrschenden Regime, ich bekam nirgendwo eine Anstellung. Meine Professoren meinten daraufhin: „Wenn du als Neurochirurg arbeiten willst, dann musst du weg aus Uruguay.“ Zuerst wollte ich nach Brasilien, aber auch da legte die Militärregierung ihr Veto ein. Das Österreichische Konsulat vergab zu diesem Zeitpunkt ein Stipendium für einen Arbeits- und Forschungsaufenthalt in Wien. Mein Problem war nur, dass ich kein einziges Wort Deutsch sprach. Das war aber nicht nur Bedingung für das Stipendium, sondern wurde auch im Vorfeld mittels schriftlichen Tests am Konsulat überprüft. Ich pokerte und lernte mit Unterstützung einer Deutschlehrerin in Montevideo einen Aufsatz über meine Motivation, warum ich in Österreich arbeiten will, innerhalb weniger Tage Wort für Wort auswendig. Ich hatte den Text auf Spanisch geschrieben und von meiner Deutschlehrerin übersetzen lassen. Beim Test schrieb ich den Artikel dann aus dem Gedächtnis nieder, ohne zu wissen, ob er überhaupt der Fragestellung entsprach, die ich ja nicht verstand. Tage später wurde ich vom Konsul informiert, ich hätte die beste Arbeit geschrieben. Er lud mich daraufhin ins Konsulat ein, um alle Details für meine Übersiedlung nach Österreich zu besprechen. Spätestens jetzt würde meine Finte auffliegen, dachte ich – und trat die Flucht nach vor ne an: Ich gestand dem Konsul sofort nach der Begrüßung, dass ich den Artikel gefakt hatte und in Wahrheit kein Wort Deutsch spreche. Aber statt mich, wie ich das erwartet hatte, hochkantig raus zuwerfen, nahm mich der Konsul in die Arme und sagte: „Lieber Ferraz-Leite, wenn sie es schaffen, in ein paar Tagen einen solchen Aufsatz in einer völlig fremden Sprache zu schreiben, dann werden Sie es problemlos schaffen, die Sprache in ein paar Monaten gut genug zu lernen, um in Österreich arbeiten zu können.“ Ich hatte das Stipendium!
» In Wien zu arbeiten, das war für mich damals wie im Himmel zu sein
Sie haben sich sehr schnell an der Wiener Universitätsklinik etabliert. Was waren Ihre Schwerpunkte?
Ferraz-Leite: In Wien zu arbeiten, das war für mich damals wie im Himmel zu sein. Der damalige Klinikvorstand Wolfgang Koos war ein in den USA ausgebildeter, international top-renommierter Neurochirurg. Er hat mir viel beigebracht, gleichzeitig aber auch viel Freiraum und Vertrauen gegeben. Es war eine wissenschaftlich sehr spannende Zeit, die Entwicklung der Mikrochirurgie eröffnete uns völlig neue Perspektiven. Als Neurochirurg war ich dann immer ein Allrounder, konnte alles operieren. Schwerpunkte waren aber sicher die Gefäßmikrochirurgie und die Schmerzbehandlung, unter anderem die Trigeminusneuralgie.
Sie hatten sich auch als Familie gut in Wien eingelebt. Dennoch wollten Sie zurück nach Uruguay, warum?
Ferraz-Leite: Mein Entschluss, nach Uruguay zurückzukehrten, machte Prof. Koos sehr wütend. Ich wollte aber meinem Heimatland beim Aufbau einer modernen Neurochirurgie unbedingt helfen, dem Land etwas zurückgeben. Sehr schnell musste ich aber erkennen, dass ich mit meinen Ideen unerwünscht war. Ich musste das Land wegen Perspektivenlosigkeit abermals verlassen. Zurück nach Wien traute ich mich nicht, weil ich die Ablehnung von Prof. Koos fürchtete, also ging ich nach Washington in die USA. Als Prof. Koos davon erfuhr, kontaktierte er mich sofort und legte mir nahe, doch nach Wien zurückzukehren. Meine Familie, alle meine Kinder, wollten das auch – also kamen wir nach Österreich zurück, dieses Mal, um zu bleiben. Bis zu meiner Emeritierung habe ich an der MedUni Wien/AKH gearbeitet. Und heute, mit meinen 75 Jahren, praktiziere und operiere ich immer noch.
Ihre Leidenschaft zur Kunst hat sie dabei immer begleitet. Was sind Ihre bevorzugten Techniken?
Ferraz-Leite: Ich arbeite mit sehr unterschiedlichen Techniken und Materialien. Vom Zeichnen über das Malen, manchmal auch sehr abstrakt, bis zur Bildhauerei. In meinem Atelier in der Nähe von Tulln arbeite ich zum Beispiel sehr viel und sehr gerne mit Holz.
Sie gestalten seit vielen Jahren exklusiv die Cover der SCHMERZ NACHRICHTEN, ohne Honorar, wie ich ergänzen darf. Jedes Coverbild entsteht dabei exklusiv für diesen Zweck und befasst sich mit dem Schwerpunktthema der jeweiligen Ausgabe. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Ferraz-Leite: Ich weiß das ehrlich gesagt nicht mehr so genau. Ich habe mich in der Schmerz- wie in der Kunstgesellschaft immer sehr engagiert. Irgendwann habe ich dann für einen Kongress der Schmerzgesellschaft ein Plakat entworfen. Frau Dr. Kofer, die damalige Inhaberin der SCHMERZ NACHRICHTEN, hat mich daraufhin eingeladen, ein Cover der Zeitschrift zu gestalten. Dann noch einmal und noch einmal … Ich mache das sehr gerne, es macht mir Spaß, meine medizinischen Kenntnisse in meine künstlerische Arbeit zu integrieren.
Wie sehr beeinflussen Sie in Ihrem künstlerischen Werk die Themen Medizin, Krankheit im Allgemeinen und physischer wie psychischer Schmerz im Besonderen?
Ferraz-Leite: Der Schmerz der Patient*innen hat mich als Mediziner Zeit meines Lebens begleitet und beschäftigt. Auch in meiner künstlerischen Arbeit ist das Leiden der Menschen ein immer wiederkehrendes Motiv. Ich finde, künstlerisch zu arbeiten ist ein bisschen wie operieren. Wenn man beginnt, weiß man nie, wohin es führt, wie das Ergebnis aussehen wird.
Gibt es ein Credo oder ein Motto, dem Sie als Künstler (vielleicht auch als Arzt bzw. als Mensch) folgen?
Ferraz-Leite: Ja, die Liebe zum Leben! Trotz allem, was passiert ist – und was gerade auf der Welt passiert: Dank der Liebe zum Leben habe ich alles ausgehalten und die Hoffnung nie verloren, dass es einmal besser wird. Das passiert aber nicht von selbst, dafür müssen wir uns täglich engagieren, aktiv daran arbeiten, um die dafür notwendigen Verbesserungen voranzutreiben. Ich habe mich medizinisch, künstlerisch, aber auch politisch immer engagiert, damals in Uruguay genauso wie heute in Österreich.
Dürfen wir uns auch im kommenden Jahr (in den kommenden Jahren) auf von Ihnen gestaltete Cover in den SCHMERZ NACHRICHTEN freuen?
Ferraz-Leite: Solange es euch gefällt, sehr gerne.
Herr Prof. Ferraz-Leite, vielen Dank für das Gespräch.
Alle Cover der letzten 22 Jahre Schmerz Nachrichten finden Sie unter www.pains.at/schmerznachrichten
erschienen in Schmerz Nachrichten 04/2022